Zu lange habe ich mich nicht an diesen Film herangetraut, aus Angst davor, wie extrem er sein würde. Am Ende war er doch weniger verstörend, als ich befürchtet hatte, und schon aufgrund der oscar-prämierten Schauspielleistung von Joaquin Phoenix ein absolutes Muss.
Der schlimmste Moment:
Als er im Wohnzimmer seiner Nachbarin auf der Couch sitzt und sie ihn bittet zu gehen, nachdem sie ihre Tochter ins Bett gebracht hat. Wir wissen nicht, was dort passiert ist. Alle Szenen, in denen sie an seiner Seite war, waren nur eingebildet. Wir wissen nur, dass er auch Gnade walten lassen wie gegenüber seinem kleinwüchsigen Kollegen, dessen Leben er verschont im Gegensatz zum Kollegen, der ihm die Waffe gegeben hatte und den er in seiner Wohnung brutal niedergestochen hat.
Interessantester Gedanke:
Arthur sagt in der Late-Night-Show, dass Murray und die Leute bestimmen wollen, was lustig ist und was nicht lustig ist, genauso wie sie bestimmen wollen, was richtig und was falsch ist. Dem entzieht sich der Joker und kreiert seine eigenen Regeln dafür, was lustig und was richtig ist. In seiner nur von sich selbst definierten Welt akzeptiert er keine gesellschaftlich verhandelten Regeln mehr.
Eine realistische Entstehungsgeschichte?
Der Joker als Ergebnis einer Politik, die psychosoziale Dienste weg kürzt, und die Schwachen und Kranken ihren Leiden überlässt – realistisch.
Zusätzlich dazu entsteht in der nach Klasse gespaltenen Gesellschaft Gothams ein so starkes Reichtums-/Armutsgefälle, dass die Stimmung schnell zu eskalieren droht. In diesem Wahlkampf provoziert der Bürgermeisterkandidat Thomas Wayne mit seiner Aussage, die ärmeren Menschen seien nicht mehr als Clowns, eine Bewegung, die Clown-Masken zum Symbol ihres Protests macht. In diesem angespannten Umfeld wird der Joker mit seinem Mord in der Talkshow zu einem Auslöser der Gewalt in der Stadt. Das Chaos, das die Stadt ergreift, ist aber in keinster Weise von ihm geplant oder bewusst hervorgerufen. Er handelt rein aus seiner eigenen Psychose und für sich selbst heraus. Für sein Bedürfnis gesehen und als lustig empfunden zu werden. Am Ende weiß er, wie er die Aufmerksamkeit aller Anderen bekommt, ob sie ihn lustig finden, ist ihm aber egal, weil er sein Bedürfnis, in die Kategorien von lustig/nicht lustig und richtig/falsch des Publikums/der Gesellschaft hinausgewachsen ist.
Eher unrealistisch: Dass eine gewaltbereite Protestbewegung einem psychotischen mordenden Clown folgt, der genau in dieser Zeit zu einem Symbol und Anführer wird.
Hier entfernt sich der Realitätsbezug dieser Geschichte zu sehr von dem, was man selbst einer angespannten us-amerikanischen Gesellschaft von heute zutrauen würde.
Unterschied zum Dark-Knight-Joker?
Der Joker in The Dark Knight (2008) ist ein genialer Stratege und Strippenzieher, der genau an den richtigen Stellen kleine Feuer legt, um eine ganze Gesellschaft in Brand und deren Zusammenhalt in Frage zu stellen. Er versteht die Gedankengänge und Motive anderer Menschen ganz genau und weiß ihre Schwächen für seine versteckten Ziele zu nutzen. Er kommt aus dem Nirgendwo, scheint keine Vergangenheit zu haben, keine eindeutige Entstehungsgeschichte hinter seinem misshandelten Gesicht und seinem Faible für Clowns.
Im Gegensatz dazu ist der neue Joker ein höchst psychotische Figur, die sich von den regulierenden Kräften der Gesellschaft befreit und Kraft in der Anarchie findet. Er erscheint nicht als Stratege, sondern als von seinen Psychosen gesteuert. Sein Konflikt: Wer Deutungshoheit über sein Tun haben soll – die Gesellschaft oder er selbst. Dass Bruce Waynes Vater Thomas Wayne Arthurs leiblicher Vater sein könnte, macht verständlicher, warum Joker zur ewigen Nemesis von Batman wird, weil deren Geschichten so eng miteinander verknüpft sind.
Absolute Überraschung für mich: Todd Phillips hat Regie geführt. Der Mann also, der eigentlich mit Teenie- und Party-Komödien wie Road Trip, Hangover 1-3, Stichtag usw. bekannt geworden ist, mit War Dogs 2016 aber erfolgreich seinen Weg in ernsthaftere Genres eingeschlagen hat.
Enemy-Check:
Ist der Joker überhaupt noch ein zeitgemäßer Bösewicht? Nach seinem Auftritt im alten Tim-Burton-Batman Film aus den 90ern fand ich ihn persönlich immer am langweiligsten, weil ich ihn als bösartigen Clown nie als bedrohlich empfand. Wie gefährlich kann ein als Clown geschminkter Verrückter sein?
Erst Heath Ledger und nun Joaquin Phoenix konnten dem Joker neues ernstzunehmendes Bösewichtleben einhauchen. Sie haben den Charakter und seine Bedrohlichkeit für Batman und Gotham verständlicher gemacht.
Anschlussfragen:
Wie zeitgemäß ist ein Feind wie der Joker?
Könnte solch eine Geschichte auch in der aktuellen us-amerikanischen Gesellschaft stattfinden?
Allgemeiner gefragt:
Wovor haben wir heutzutage am meisten Angst?
Wer sind die größten Feinde für den Frieden unserer westlichen Gesellschaften?
- im Internet radikalisierte Verrückte
- Incels
- fundamentalistische Terroristen
- Corona-Leugner, Reichsbürger, Verschwörungserzähler und Schwurbler
- Populisten und ihre Parteien
- Diktatoren
- rechtskonservative Multimillionäre
- wirtschaftsliberale Mindset-Freaks
- High-Performer mit Schneeballsystem